Veranstaltung "Einkommen digitaltauglich definieren!"

Am 29. Juni 2021 hat der Nationale Normenkontrollrat gemeinsam mit
dem IT-Planungsrat sein neues Gutachten „Digitale Verwaltung braucht
digitaltaugliches Recht – Der modulare Einkommensbegriff“
vorgestellt.

Über 200 Teilnehmerinnen und Teilnehmer haben die Präsentation des
Gutachtens über den Livestream verfolgt. Dieser ist auch im Nachgang
der Veranstaltung jederzeit für Sie hier abrufbar.

Nach der Begrüßung durch Christian Pfromm, Chief Digital Officer,
Freie und Hansestadt Hamburg, und dem Eingangsstatement von Dorothea
Störr-Ritter, Mitglied des Nationalen Normenkontrollrates, diskutierten
die Gutachter Jun.-Prof. Dr. Maria Marquardsen (Ruhr-Universität
Bochum) und Werner Achtert (msg systems ag) mit den Bremer Staatsräten
Dr. Martin Hagen und Jan Fries die zentralen Ergebnisse des Gutachtens.

 Das Gutachten finden Sie hier auf der Homepage des Nationalen
Normenkontrollrates.

Landrätin Dorothea Störr-Ritter, Mitglied des NKR: „Im Nationalen
Normenkontrollrat sind wir davon überzeugt, dass diese Modularisierung
des Einkommensbegriffs einen echten Durchbruch für die Digitalisierung
von Verwaltungsdienstleistungen bewirken kann. Jetzt obliegt es der
nächsten Bundesregierung, diese Erkenntnisse zu nutzen, damit
„Once-Only“ in der breiten Anwendung und damit die moderne
bürgerorientierte digitale Verwaltung nicht nur eine Vision bleibt,
sondern auch Realität wird.“

Christian Pfromm, Chief Digital Officer der Stadt Hamburg: „Für
Hamburg als diesjähriges Vorsitzland des IT-Planungsrates sind die
Umsetzung des Onlinezugangsgesetzes, das Registermodernisierungsgesetz
und die Beschleunigung der Digitalisierung von
Verwaltungsdienstleistungen wichtige Schwerpunktthemen. Echte
Verfahrensvereinfachungen, die Daten nach dem „Once-Only“-Prinzip
erfassen und verfügbar machen, können aber nur gelingen, wenn die
zugrundeliegenden Begrifflichkeiten eindeutig und einheitlich verwendet
werden. Insofern liefert das Gutachten des NKR grundlegende Erkenntnisse
und wertvolle Impulse zur Umsetzung.“

Dr. Martin Hagen, Staatsrat, Freie Hansestadt Bremen: „Im Bremer ELFE
Projekt konnte der Kinderzuschlag bislang nicht umgesetzt werden, weil
u.a. der Abruf der relevanten Einkommensdaten aufgrund nicht
programmierbarer Datenfelder scheitert. Der Einkommensbegriff muss
codierbar werden. Gelingen kann das, wie das Gutachten zeigt, durch eine
Zerlegung in seine modularen Bestandteile, vergleichbar mit Bausteinen.
Auf diese Weise lassen sich passgenaue und einzelfallgerechte Lösungen
„bauen“. Mit dem Praxistransfer beginnen wir in Bremen im Themenfeld
‚Familie und Kind‘ jetzt.“

Jan Fries, Staatsrat, Freie Hansestadt Bremen: „Mit einem modularen,
digitalisierungstauglichen Einkommensbegriff sehen wir die Chance,
Sozialleistungen bürgerfreundlicher zu gestalten. Er befreit von der
Last, immer wieder neu zu klären, was als Einkommen anzusehen ist und
was nicht. Damit sinkt die Hemmschwelle, Rechtsansprüche geltend zu
machen, und das Antragsverfahren ist, weil es einfacher ist, auch
weniger sozial selektiv. Außerdem gibt es weniger Rückfragen der
Behörden zur Klärung der Einkommen und damit ein kundenfreundlicheres,
weil schnelleres und störungsärmeres Verfahren.“

Kernbotschaften des Gutachtens

 1.    Digitale Verwaltungsverfahren werden nur durch passgenaue
Datenabrufe nutzerfreundlich und effizient. Es gilt, die in den
Registern und Fachverfahren vorhandenen Daten verfahrensübergreifend zu
nutzen. Die inhaltliche Passgenauigkeit der Daten muss so verbessert
werden, dass die Daten, die bereits in den Behörden vorhanden sind, nur
ein einziges Mal durch die Betroffenen anzugeben sind. Nur so kann das
Once-Only-Prinzip verwirklicht werden.

 2.    Die wechselseitige Anpassung von rechtlichen und technischen
Anforderungen ist nötig. Der Begriff des Einkommens ist äußerst
individuell und detailreich ausgestaltet. Neben sprachlichen gibt es
auch inhaltliche Abweichungen. Folge ist, dass die verschiedenen
Behörden unter dem vermeintlich gleichen Begriff des Einkommens
Unterschiedliches verstehen. Ein optimaler Datenaustausch zwischen den
Registern und Fachverfahren erfordert aber, dass sich in gleich
benannten Datenfeldern auch die gleichen Inhalte wiederfinden.

 3.    Verfahrensübergreifende sprachliche Vereinheitlichung und
Modularisierung bieten einen Weg zu einem digitaltauglichen
Einkommensbegriff. Die verschiedenen Einkommensbegriffe folgen – trotz
Detailunterschieden – weitgehend einer ähnlichen Grundstruktur und
nutzen gemeinsame Begriffselemente, die als Anknüpfungspunkt für die
Modularisierung dienen können.

 4.    Ein standardisiertes Baukastensystem ermöglicht Passgenauigkeit
von Recht und Technik. Für die Modularisierung sind die Rechtsbegriffe
in ihre Bestandteile zu zerlegen und sprachlich verfahrensübergreifend
eindeutig zu bezeichnen. Die durch die Zerlegung entstandenen Module und
Submodule können anschließend je nach fachlichem Kontext beliebig -
wie in einem Baukastensystem - kombiniert werden („Harmonisierung
durch Modularisierung“).

 5.    Begriffliche Abweichungen müssen sich in den Datenbeständen
widerspiegeln. Allein die rechtliche Harmonisierung ist allerdings nicht
ausreichend, damit die Einkommensdaten problemlos
verfahrensübergreifend ausgetauscht werden können. Zugleich bedarf es
eines Abgleichs der Module und Submodule mit den vorhandenen
Datenbeständen in den jeweiligen Registern und Fachverfahren. Die im
Recht verwendeten Module und Submodule müssen sich in den Datenfeldern
entsprechend wiederfinden. Sofern Abweichungen bestehen, muss dies
nachjustiert werden.

 6.    Für den passgenauen Abgleich von Recht und Technik dienen als
zentrale Werkzeuge das Data Dictionary und das Data Repository. Im Data
Dictionary werden die Rechtsbegriffe inhaltlich eindeutig beschrieben.
Auch ist enthalten, in welchen Registern und Fachverfahren diese
Rechtsbegriffe in Datenfeldern abgebildet sind und wer dafür zuständig
ist. In einem darauf aufbauenden Data Repository wird die technische
Datenstruktur einzelner Begriffsmodule definiert.

 7.    Notwendig ist eine Inventur des Rechtsbestandes im Hinblick auf
seine Digitaltauglichkeit. Um Once-Only Wirklichkeit werden zu lassen
und einen verfahrensübergreifenden Datenaustausch zu ermöglichen, muss
die Digitaltauglichkeit des existierenden Rechtsbestandes verbessert
werden, ansonsten bleibt die Vernetzung der Datenbestände, insbesondere
bei der Umsetzung des OZG eine unerreichbare Wunschvorstellung.

 8.    Es muss eine verpflichtende Digitaltauglichkeitsprüfung von
Gesetzen bereits im Gesetzgebungsverfahren erfolgen. Schwerpunkt dieser
Digitaltauglichkeitsprüfung muss auf der Wiederverwendung
wohldefinierter Rechtsbegriffsmodule und der Erstellung erforderlicher
Prozessablaufdiagramme mit deren im Vollzug erforderlichen Datenfeldern,
Datenschnittstellen und technischen Verfahren liegen.

 9.    Die Harmonisierung des Rechtsbestandes ist Schlüssel zum
digitaltauglichen Recht. Es steht gleichberechtigt neben den anderen
wichtigen Bausteinen der Digitalisierung von Verwaltungsleistungen, wie
Onlinezugangsgesetz, Registermodernisierung und
Unternehmensbasisregister. Ziel muss es sein das Modularisierungs- und
Baukastenkonzept auf alle wesentlichen Rechtsbegriffe zu übertragen.
Begonnen werden sollte mit der Analyse der benötigten Datenfelder und
Datenschnittstellen für den digitalen Datenaustausch zu
Einkommensmodulen im Rahmen des ELFE-Projekts (Einfach Leistungen für
Eltern).

 10. Die Digitaltauglichkeit des Rechts ist als eigenes Rechtsprinzip zu
verankern. Die Digitaltauglichkeit muss Eingang in die juristische
Methodenlehre finden. Gleichzeitig bedarf es einer kritischen
Auseinandersetzung mit dem Streben des Gesetzgebers nach
Einzelfallgerechtigkeit. Dieses Streben trägt entscheidend zur
Komplexität von Recht und Vollzug bei und führt dazu, dass durch die
Überkomplexität der Antragsverfahren Bürgerinnen und Bürger sowie
Unternehmen staatliche Leistungen nicht in Anspruch nehmen. Eine
Reduzierung der Überkomplexität durch Typisierungen gewährleistet
mehr Gerechtigkeit und Gleichbehandlung aller Betroffenen.

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